Kapitel 1 - Leben in vollen Zügen

Eines Abends, während der Fahrt von Darmstadt nach Heppenheim, saß sie ihm gegenüber. Obwohl er seit Jahren mit diesem Zug nach Hause fuhr, hatte er sie noch nie gesehen. Schade, denn sie war ihm sofort sympathisch. Er schätzte sie auf knapp unter 30. Später erfuhr er, dass er damit richtig lag. Blonde, fast strohblonde, sehr kurze Haare. Meckifrisur. Am Haaransatz über der Stirn leicht metallic-rot eingefärbt. Kess. Er stellte sich vor, wie es wäre, ihr über die Haare zu fahren und sie zu verstrubbeln. Schlank; für seinen Geschmack vielleicht sogar eine Idee zu schlank. Freundliches, offenes Gesicht; braune, wache Augen. Passend dazu eine ebenfalls braune Metallbrille mit leicht rechteckigen, dünn gefassten Gläsern. Die Nase in einem winzigen Stups endend. Kein Lippenstift; ungeschminkt.

Sie trug indigoblaue Jeans und ein dunkelblaues T-Shirt ohne Aufdruck. Im Gegensatz zu allen anderen Shirts heute auf der Welt gab es keinen Bauch frei. Das fiel ihm sofort auf. Schmale Hände, keine lackierten Fingernägel. Am Kleiderhaken über ihrem Sitz hing ihr Anorak: grau, hellblau abgesetzt, nichts Auffälliges. Neben ihr auf dem Polster eine schwarze, textile Handtasche eines bekannten Herstellers, Mittelformat. An einem Henkel war die Naht aufgegangen. Offenbar war das gute Stück schon etwas älter. Kein Rucksack. Auch das ungewöhnlich. Sie hatte die Schulter an die Waggonwand gelehnt und schaute versonnen auf die vorbeiziehende Landschaft, die von tiefstehender herbstlicher Abendsonne in satten Farben erglühte.

In immer kürzer werdenden Abständen unterbrach er seine Lektüre, Massaker der Illusionen, eine Auswahl aus dem Zibaldone von Giacomo Leopardi, in der er die letzten Minuten ohnehin nur noch unkonzentriert geblättert hatte. Fast schon fieberhaft überlegte er, wie er sie ansprechen könnte. Gespräche sind das Beste an dem ewigen Unterwegssein; bei ihm täglich mehrere Stunden. Einmal fand er in einem Onlinedienst eines bekannten deutschen Wochenmagazins die Meldung, dass die Bahn das meistgehasste Großunternehmen Deutschlands sei. Kein Wunder bei den oft mangelhaft gereinigten Waggons, dem ungenügenden Sitzplatzangebot während der Hauptverkehrszeiten. Nicht selten lassen sich Türen nicht öffnen und Toiletten nicht benutzen, obwohl der Zug gerade eingesetzt wurde.