Kapitel 1 - Leben in vollen Zügen

Einen Tag später achtete er darauf, rechtzeitig in Darmstadt zu sein, um den Zug zu erreichen, in dem, wie er hoffte, Gloria Sagarra nach Hause fahren würde. Er stürmte die Bahnsteigtreppe hinauf, stieg in den ersten Waggon ein und ging durch bis zum Zugende. Sie war nicht da. Er überlegte kurz, was er tun sollte, und wählte schlussendlich einen Sitzplatz, von dem aus er alle kommenden Fahrgäste gut sehen konnte. Als die Ansage zur Abfahrt aus dem Lautsprecher ertönte und der Zug sich in Bewegung setzte, nahm er missmutig den Leopardi aus seinem Alukoffer und begann unkonzentriert zu lesen. Statt Gloria Halleluja: Miserere. Auch in den nächsten Tagen konnte er sie nicht entdecken. Schon begann sich ihr Bild in seiner Erinnerung zu verblassen, da traf er sie wieder. Zum Glück war der Platz ihr gegenüber frei.

»Darf ich?«

Sie grüßte verhalten, aber doch so, dass er sich sicher war, dass sie ihn wiedererkannte. Statt eines blauen T-Shirts trug sie diesmal ein dezent gemustertes hellgraues, dazu eine schwarze Hose. Am Haken über dem Sitz hing der blaugraue Anorak, den er schon kannte.

Er versuchte, das Gespräch zu rekapitulieren, das er mit ihr während der ersten Fahrt geführt hatte. Es fiel ihm ein, dass er ihr einen Lektürevorschlag versprochen hatte. Da er ihn inzwischen schon wieder vergessen hatte, musste er sich jetzt rasch was einfallen lassen. Die Anthologie aus Leopardis Zettelkastennotizen, die er damals gelesen hatte, war völlig ungeeignet. Zu schwarz, zu trist, zerstörerisch statt aufbauend, eben ein Massaker liebgewordener und gängiger Illusionen. Ebenso die Sachbücher, die ihm in letzter Zeit untergekommen waren, obwohl einige sehr nachdenkenswerte darunter gewesen waren, überwiegend Analysen des grassierenden neoliberalen und menschenverachtenden Zeitgeistes - wenn man da überhaupt von Geist sprechen konnte. Für jetzt kamen nur Romane in Frage. Was hatte er da in der Hand gehabt? Tabucchis Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro. Eher nicht; tolles Buch, aber bestimmt zu politisch; Vázquez-Figueroa Der Leguan. Total ungeeignet, viel zu viel archaische sexuelle Gewalt, zu brutal. Hanns-Josef Ortheil Im Licht der Lagune. Hübsches Buch, aber auch zu viel Sex, wenngleich apart eingeschrieben in die venezianische Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts. Endlich glaubte er, die rettende Idee