Kapitel 1 - Leben in vollen Zügen

so etwas. Er fand das harsche Urteil unangemessen, war im Gegenteil von dem Roman begeistert, weil der Autor nicht für seine Protagonisten Partei ergreift, sondern seine Leser zwingt, sich mit der Handlung und den Figuren auseinanderzusetzen. Als Coetzee den Literaturnobelpreis erhielt, fand er das eine exzellente Entscheidung und freute sich darüber.

In der nächsten Zeit sahen sie sich öfter, wenn auch unregelmäßig und immer ungeplant. Meist einmal pro Woche, dann wieder länger nicht, dann auch mal zwei Tage hintereinander. Gelegentlich auch morgens. Wenn sie Zeit hatte, gingen sie in Darmstadt in die Cafébar in der Haupthalle, was Arnulf häufig machte, denn er hatte dort, je nachdem mit welchem Zug er gekommen war, bis zu 40 Minuten Aufenthalt. Sie erzählten, was sie kulturell unternommen und erlebt hatten. Schnell hatte er bemerkt, dass sie an kulturellen Dingen aller Art ausgesprochen interessiert war. Persönlich gefärbte Themen vermieden sie. Wenn er da nach zu bohren versuchte, blockte sie konsequent ab. Nach einer Weile fiel ihm auf, dass die Wochenenden der jungen Frau auffallend häufig anders verliefen, als sie das vorher angekündigt hatte. Die Kneipentour mit Kumpels, der Besuch von Jazz und Literatur in der Darmstädter Zentralstation waren ebenso ausgefallen wie ein geplanter Museumsbesuch in Mannheim und ein Treffen mit Studienfreunden. Mal hatte sie einen Migräneanfall bekommen oder musste kurzfristig einen Nachmittagsdienst im Theater übernehmen, weil sich Kollegen krankgemeldet hatten. Irgendetwas Unvorhergesehenes passierte anscheinend immer. Zunächst drückte Arnulf nur sein Bedauern aus, denn er wusste, wie ärgerlich es war, wenn die Pläne fürs Wochenende platzen, doch mit der Zeit beschlichen ihn mehr und mehr Zweifel. Irgendwas stimmte mit der Frau nicht. Er fragte sich, ob Gloria einfach nur überdurchschnittlich viel Pech mit ihren Unternehmungen hatte, oder ob sie diese ganz oder doch weit überwiegend erfand, aus welchen Gründen auch immer. Als sie ihm an einem Freitag auf der Heimfahrt erzählte, sie wolle mit einer Freundin am Wochenende ins Kino gehen, meinte er lapidar:

»Hoffentlich klappt das. Wir haben den Film auch gesehen; uns hat er sehr beeindruckt. Auf jeden Fall drücke ich Ihnen die Daumen, dass nicht wieder etwas dazwischen kommt.«