Kapitel 1 - Leben in vollen Zügen

zu haben: Yaloms Und Nietzsche weinte und John M. Coetzees Schande.

»Ich hatte Ihnen einen Lektürevorschlag versprochen.«

Sie wehrte ab.

»Bevor Sie wieder loslegen, mich zu löchern beziehungsweise auszufragen, machen wir es heute umgekehrt. Ich bin zwar keine Journalistin und auch nicht sonderlich neugierig, aber jetzt möchte ich erstmal ein paar Informationen über Sie haben. Ich wüsste zum Beispiel schon, wer mich da so einfach mir nichts, dir nichts zu Smalltalk zwingt. Den mag ich nämlich nicht so furchtbar gern.«

Gespannt blickte sie ihn an. »Ich höre! Also bitte!«

Jetzt lachte sie wieder, genau so wie bei der ersten gemeinsamen Fahrt. Plötzlich war er unsicher. Wo beginnen, wie tief einsteigen? Bei der Wahrheit bleiben? Sich ein bisschen interessanter machen, als die Wirklichkeit hergab? Wäre ja vielleicht nicht ganz falsch, könnte aber zu Schwierigkeiten führen. Falls sie später eventuell auf das Gespräch zurückkäme, könnte er sich leicht in Widersprüche verwickeln. Nachdem er in Sekundenbruchteilen mögliche Alternativen abgewogen hatte, entschied er sich für die Version gemäßigte Wahrheit. Diese ließ bei weiteren Begegnungen Amplituden in beide Richtungen zu.

»Dass ich Journalist bin, genauer gesagt Redakteur, wissen Sie ja schon. Ich arbeite beim HR in der Literaturabteilung. Bin unter anderem für unser Hörspiel- und Featureprogramm zuständig, fürs, wie das bei uns heißt, Künstlerische Wort.«

Sie fand das sehr interessant, aber er wehrte ab. Da er den Job schon über drei Jahrzehnte mache, sei alles längst Routine. Die Wirklichkeit sei wenig aufregend; wirkliche Spitzensendungen kämen trotz aller Bemühungen nur selten zustande. Zum Schluss erinnerte er sie an den Lektürevorschlag und fragte, ob sie ihn jetzt hören möchte. Sie wies aus dem Fenster. Für heute sei es zu spät, denn der Zug fahre gerade in den Bahnhof Heppenheim ein.

Irgendwann wurde er seine Lesetipps dann doch los. Gloria Sagarra berichtete später, sie habe Yaloms Roman amüsant gefunden. Der Nietzsche sei doch wohl ein komischer Kauz gewesen. Höchst bedenklich hingegen Coetzees Schande. So kalt und unbeteiligt könne nur ein Mann über Vergewaltigung schreiben. Offensichtlich habe der Mann keine Ahnung von